Wenn es in der Advents- und Weihnachtszeit zu behaglich wird, dann ist es manchmal gut, die Perspektive zu wechseln.

Wenn es mir in der Advents- und Weihnachtszeit zu behaglich wird, dann lese ich daher gerne Erich Kästner. Weihnachtslied, chemisch gereinigt.

 

Morgen, Kinder, wird’s nicht geben!
Nur wer hat, kriegt noch geschenkt.
Mutter schenkte euch das Leben.
Das genügt, wenn man’s bedenkt.
Einmal kommt auch eure Zeit.
Morgen ist’s noch nicht soweit.

(Erich Kästner)

 

„Morgen, Kinder, wird’s nichts geben!“ Das hätte wohl auch das Lebensmotto von Maria sein können. Aber dann kam alles anders: Ihr wurde die Geburt eines Sohnes verhießen: Unehelich, allerdings. Das hätte ihren sozialen Abstieg endgültig besiegeln können – war aber der Anfang einer ganz neuen Zeit.

Maria erkennt das. Und sie singt:

Meine Seele erhebt den Herrn,
und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes;
denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.
Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.
Denn er hat große Dinge an mir getan,
der da mächtig ist
und dessen Name heilig ist.
Und seine Barmherzigkeit
währet für und für
bei denen, die ihn fürchten.
Er übt Gewalt mit seinem Arm
und zerstreut, die hoffärtig sind
in ihres Herzens Sinn.
Er stößt die Gewaltigen vom Thron
und erhebt die Niedrigen.
Die Hungrigen füllt er mit Gütern
und lässt die Reichen leer ausgehen.
Er gedenkt der Barmherzigkeit
und hilft seinem Diener Israel auf,
wie er geredet hat zu unsern Vätern,
Abraham und seinen Nachkommen in Ewigkeit.

Lk 1,46–55 (Magnificat)

Maria erfährt Gottes Nähe als lebensverändernd.

Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.
Denn er hat große Dinge an mir getan
.

Ihr Leben bleibt mühsam, die anstehende Geburt, das ahnt sie vielleicht schon, wird viel von ihr fordern: Denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge. Aber Maria hofft: Mit der Geburt ihres Kindes lässt Gott eine neue Zeit anbrechen.

Er stößt die Gewaltigen vom Thron
und erhebt die Niedrigen.
Die Hungrigen füllt er mit Gütern
und lässt die Reichen leer ausgehen.
Er gedenkt der Barmherzigkeit
und hilft seinem Diener Israel auf.

Vor Gott zählen nicht Reichtum, Macht und Ansehen. Gott steht auf der Seite der Armen, Schwachen und Verachteten. Und Gott möchte, dass auch wir an ihrer Seite stehen.

Wenn es in der Advents- und Weihnachtszeit zu behaglich wird, dann ist es manchmal gut, die Perspektive zu wechseln.

Helge Pönnighaus

 

Bibeltext zitiert nach: Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Gedichtstrophe zitiert nach: Erich Kästner: Weihnachtslied, chemisch gereinigt (Nach der Melodie: „Morgen Kinder, wird’s was geben!“), in: Walter Jens (Hg.): Es begibt sich aber zu der Zeit. Texte zur Weihnachtsgeschichte, Frankfurt/Main 32004, S. 227.